Sachsen-Anhalt gehen die Lehrlinge aus. Ob Metallbauer, Fleischer oder Bäcker - immer mehr Unternehmen haben große Probleme, ihre Lehrstellen zu besetzen. Entspannung ist nicht in Sicht.
In der Stendaler Landbäckerei läuft die Produktion erst am Nachmittag richtig an. Dann werden für den kommenden Tag die Brötchenteiglinge zur Auslieferung an die 130 Filialen vorbereitet, Brote gebacken und Torten verziert. Gegen Mitternacht ist Schluss. Trotz der für den Bäckerberuf eigentlich noch humanen Arbeitszeit hat Bosse ein Problem: "Ich finde zu wenige Lehrlinge." Damit steht er nicht allein. In Sachsen-Anhalt gibt es statt Lehrstellen viele Leerstellen. Landesweit können in der Wirtschaft derzeit rund 2800 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. Der Grund: Es gibt immer weniger Bewerber. Haben beispielsweise im Schuljahr 2002/2003 noch rund 35000 junge Erwachsene die Bildungseinrichtungen verlassen, liegt die Zahl jetzt bei etwa 14000 - sie hat sich mehr als halbiert.
Einzelne Betriebe lehnen schon Aufträge ab
"In diesem Jahr sind mit Start des Ausbildungsjahres mehr Lehrstellen offen als je zuvor", sagt der Präsident der Handwerkskammer Magdeburg, Hagen Mauer. Von der Altmark bis zum Harz sind in Handwerksbetrieben noch 120 Ausbildungsplätze zu haben. Gesucht werden vor allem Bäcker, Fleischer und Gebäude-reiniger. "In einigen Regionen und Branchen treten erste Engpässe auf", berichtet Mauer. "Einzelne Betriebe müssen heute schon Aufträge ablehnen, weil ihnen die Fachkräfte fehlen. Und die Lage spitzt sich weiter zu."
Landesweit ist die Situation nicht anders. In vielen Lehrberufen gibt es deutlich mehr Stellen, als tatsächlich besetzt werden können. Bei Bäckern und Fleischern können sich die 323 Bewerber ganz in Ruhe aussuchen, welche der 468 angebotenen Stellen denn persönlich passen könnte. Auch angehende Metallbauer und Schweißer haben die freie Qual der Wahl. Fast 500 freie Lehrstellen haben hier die Unternehmen gemeldet. Nur knapp 300 Bewerber wollen.
Am Bau kommen derzeit auf zehn freie Ausbildungsstellen neun Bewerber. Beim Blick in die Zukunft fällt das Ergebnis ganz schlimm aus: In Sachsen-Anhalt, schätzt der Bauindustrieverband, werden bis zum Jahr 2020 in der Bauwirtschaft 1500 Lehrstellen mangels Bewerbern nicht besetzt werden können. Unterm Strich waren in Sachsen-Anhalt mit Stand August noch 2811 Lehrstellen zu haben.
Schuld daran hat zum größten Teil die demografische Entwicklung. Die geburtenschwachen Jahrgänge melden sich - übertrieben gesagt - aus dem Berufsleben so gut wie ab. "Die Bewerberzahlen werden stagnieren", sagt der Chef der Arbeitsagenturen im Land, Kay Senius. "Das bedeutet, dass die Situation insbesondere für die kleinen Handwerksbetriebe und Familienunternehmen, wie sie im Bäcker- oder Fleischerhandwerk typisch sind, immer schwieriger wird." "Der Lehrlingsmangel von heute ist der Fachkräftemangel von morgen", sekundiert Andreas Bosse.
Die Landbäckerei ist dafür das "beste" Beispiel. Bosse könnte 120 jungen Menschen sofort einen Ausbildungsplatz anbieten. Besetzt sind gerade einmal 61. Dabei macht die Landbäckerei attraktive Angebote. "Wir geben den Lehrlingen eine Übernahmegarantie oder steuern beim Fahrgeld zur Berufsschule etwas dazu. Aber wir können uns niemanden backen."
Der Bäckerberuf leide auch darunter, "dass er immer noch an seinem Image vom Frühaufsteher zu knabbern habe, der mitten in der Nacht, wenn andere von der Party kommen, Brötchen backen muss". Auch würden für viele Jugendliche die Wege zur Berufsschule immer weiter. So seien im Harz wohnende Azubis über eine Stunde nach Magdeburg unterwegs. "Auch das schreckt viele ab."
Um das personelle Loch wenigstens einigermaßen stopfen zu können, greift Bosse auch auf ältere, bereits aus dem Betrieb ausgeschiedene Mitarbeiter zurück. Diese arbeiten wieder stundenweise im Unternehmen mit.
Gibt es generell einen Ausweg? Biologisch gesehen, ist es eher schwierig. Aber ein paar Möglichkeiten gebe es schon, meint Handwerkskammer-Präsident Mauer. Seiner Ansicht nach muss beispielsweise die Berufsorientierung in den Schulen verbessert werden. Junge Leute schon frühzeitig gezielt mit den Inhalten von Berufen vertraut machen und attraktive Inhalte wie Aufstiegschancen klarer herausstellen - "das würde schon ein Stück weiterhelfen" .
Selbiges gelte für die Ausbildungsreife der Schüler, "die dringend verbessert werden muss". Heißt im Umkehrschluss: Hier liegt einiges im Argen. Landbäckerei-Chef Bosse drückt sich noch di-plomatisch aus: "Die Grundkenntnisse vieler Bewerber lassen zu wünschen übrig." Er braucht Verkäuferinnen, die in Mathematik nicht schlechter als zwei stehen. Bei Bäckern drückt er ein Auge zu: drei.
"Grundkenntnisse lassen zu wünschen übrig."
Aber auch das Handwerk selbst müsse sich als Arbeitgeber noch besser präsentieren, sagt Mauer, der einen Metallbaubetrieb im altmärkischen Schinne führt, selbstkritisch. "Unsere Betriebe arbeiten in einem hochmodernen, technologiegetriebenen Umfeld und bieten sehr gute Aufstiegschancen. Das muss deutlicher rüberkommen."
Die Landbäckerei versucht es. Es gibt keinen Messeauftritt des Unternehmens, wo auf dem Stand auch Lehrlinge aus dem eigenen Haus stehen und aus der Praxis berichten können. Es gibt eine eigene Azubi-Internetseite und einen eigenen Facebook-Auftritt. "Marketing", sagt Bosse, "wird immer wichtiger. Wir müssen die jungen Menschen auf uns aufmerksam machen."
Auch Arbeitsagenturen-Chef Senius sieht die Unternehmen zunehmend in der Pflicht. Diese könnten Jugendliche an sich binden, indem sie ihnen beispielsweise signalisieren: "Du hast in unserem Unternehmen eine Perspektive auch über deine Ausbildung hinaus."
Es gebe noch eine weitere Möglichkeit. Senius weist auf die landesweit fast 11000 arbeitslosen jungen Erwachsenen zwischen 25 und 35 Jahren, die keine abgeschlossene Ausbildung haben, aber dazu durchaus noch in der Lage wären. "Warum sollten sie nicht eine Ausbildung machen?", fragt er. "Schließlich haben sie dann noch 30 Berufsjahre als Fachkraft vor sich."
aus der Volksstimme vom 11. Oktober 2013